Beschäftigt man sich ein wenig mit Erziehungsratgebern, Internetforen, oder den Erzählungen anderer Eltern, dann könnte man den Eindruck gewinnen, das Leben unserer Kinder bestünde ausschließlich aus einer Abfolge anstrengender Abschnitte. Auf die Dreimonatskoliken folgen schon bald die Autonomiefindung und die Trotzphase, schlafen sie endlich halbwegs durch, beginnen Albträume und Nachtschreck, zwischen Kindergarten und Schulanfang bricht die Sechsjahreskrise über die Familie herein, und hat man das alles irgendwie überlebt, lauert am Ende das Schreckgespenst der Pubertät darauf, mit voller Härte zuschlagen zu können. Die dauert dann auch eigentlich an, bis die Brut schließlich flügge wird, das elterliche das Nest verlässt, und sich für die Mühsal der vergangenen Jahrzehnte damit bedankt, dass sie zwar regelmäßig vorbeischneit, um den Kühlschrank leer zu räumen und einen 50er zum Tanken abzustauben, ansonsten aber selten für Kurzweil, Unterhaltung oder familiäre Gemeinsamkeit zur Verfügung steht. Und die Tuppergschirrdln bringen sie auch nie zurück.
Wenn man Glück hat, ändert sich das, wenn die Sprösslinge etwas älter, reifer und vielleicht auch selbst Eltern werden. Wenn man Pech hat, ziehen sie nach Australien, und alles, womit man sich später trösten kann, sind gelegentliche Emails und Fotos seiner Enkelkinder. Da fragt man sich doch irgendwie, ob sich das alles lohnt?
Natürlich ist das jetzt sehr überspitzt formuliert, so dramatisch ist die Sache mit dem Kinderkriegen nicht, und würde nicht zwischen all den schwierigen Phasen auch mal der eigentlich liebenswerte Charakter des Nachwuchses durchscheinen, wären wir vermutlich alle Einzelkinder geblieben, denn sowas tät sich ja kein vernunftbegabter Mensch freiwillig öfter an. Dennoch ist das Mantra: „Es ist nur eine Phase!“ ein ganz typischer Glaubenssatz für die meisten Eltern, und irgendwie wartet man schon recht oft darauf, dass irgendein Zustand dann bitte jetzt auch bald wieder vorbei gehen möge.
Während ich aber bei anderen Eltern schon einige Male mitbekommen habe, dass sie in bestimmten Phasen von „der schwersten Zeit“ sprechen, die sie mit ihren Kindern bisher erlebt haben, kann ich mit Bestimmtheit sagen: unsere schlimmste Zeit, die haben wir definitiv hinter uns. Egal, wie schlecht Rosie schläft, wie lästig und trotzig sie ist, wie raunzig und unwillig, wie sehr sie mir manchmal zeigt, wie wenig Bock sie jetzt auf Übungen, Therapien oder Essen hat – es ist ein (in Ostösterreich) sogenannter Lercherlschas, im Vergleich zu dem, wie unsere ersten paar Tage, Wochen und Monate ausgesehen haben.
Die Wochen auf der Neonatologie, die Ungewissheit, die Diagnosen, die völlige Überforderung mit der Situation, die anfänglichen Bindungsschwierigkeiten, eine knackige postpartale Depression, Zusammenbrüche am Tag, durchweinte Nächte, und dazwischen rund um die Uhr das Versorgen eines kleinen Würmchens , von dem uns keiner sagen konnte, ob und wie es die Welt um sich herum oder uns als Eltern irgendwann wahrnehmen und darauf reagieren wird. Das war die schlimmste Zeit, und ich bin mir ziemlich sicher, dass keine Trotzphase der Welt mich nochmal in diesen psychischen Ausnahmezustand zurückbringen kann. Das soll nicht heißen, dass mein Kind und seine diversen Phasen mich nicht auch gelegentlich wahnsinnig machen, und ich mich an einen weit entfernten Ort mit warmen Sonnenstrahlen und kalten Cocktails wünsche, aber ich bin zumindest ziemlich zuversichtlich, dass es mir, sollte uns nicht ein schwerer Schicksalsschlag ereilen, nicht nochmal so scheiße gehen wird.
Wenn man so will, ist das ein bisschen der Vorteil, den wir anderen Eltern gegenüber haben. Natürlich gibt es aber auch hier, wie immer, eine Kehrseite der Medaille.
Wie schon einmal erwähnt, ist eine der größten Herausforderungen im Leben mit einem behinderten Kind, vor allem in den ersten Jahren, der Vergleich mit anderen Familien. Man sieht, wie es hätte sein können, und andere haben das, was man sich so sehr gewünscht und erträumt hat, während man selbst im Wartezimmer einer Neurologie sitzt und in Tränen ausbricht, wenn man auf das eigene Kind angesprochen wird, anstatt glücklich Babyfotos herumzuzeigen.
Nach mittlerweile drei Jahren kann ich aber voller Überzeugung die folgenden, Hoffnung verströmenden Worte schreiben: „Es wird viel, viel, viel, viel, viel leichter.“ Und zwar schneller, als man es sich zunächst vorstellen kann.
Durch meinen Alltag mit Rosie war ich immer schon mit vielen anderen Kindern und auch Familien konfrontiert. Dabei ist es nicht zwingend so, dass es immer die „normalen“ Familien mit den gesunden Kindern sind, die für ein komisches Gefühl sorgen. Auch daran, andere Familien mit behinderten Kindern zu sehen, muss man sich erst mal gewöhnen. Im ersten Fall blickt man wehmütig auf die herumtobenden Altersgenossen des eigenen Sprosses und fragt sich, wieso für einen selbst manches so kompliziert sein muss. Im zweiten Fall vergleicht man oft unwillkürlich die Entwicklung der Kinder, sieht, was das eigene Kind im Vergleich nicht, noch nicht oder schon kann und bekommt bei älteren Kindern, ob man will oder nicht, auch einen kleinen Einblick in eine mögliche Zukunft, die vielleicht Herausforderungen für einen bereit hält, mit denen man sich im Moment noch gar nicht auseinandersetzen will.
Was ich allerdings in den letzten drei Jahren gelernt habe, ist, dass man kein Kind, keine Familiendynamik und keine Entwicklung miteinander vergleichen kann, und dass es einfacher wird, mit derartigen Situationen umzugehen, je öfter man sich damit konfrontiert. Ich wähle hier bewusst diese aktive Formulierung, denn natürlich kann man sich auch dazu entscheiden, sich zurückzuziehen und andere Kinder/Familien weitestgehend auszublenden. Für mich war das keine Option, und ich habe, abgesehen von den notwenigen Terminen auf neurologischen Stationen in Krankenhäusern, in Entwicklungsambulatorien und Therapiezentren oder in Reha-Einrichtungen, auch bewusst immer den Kontakt mit Freundinnen und Bekannten gesucht, die ebenfalls Kinder haben, auch wenn es anfangs schmerzvoll war und, wie ich zugeben muss, manchmal immer noch ist. Man kann sich aber, wie ich festgestellt habe, durchaus desensibilisieren, vieles wird leichter und selbstverständlicher. Zudem wird einem schnell klar, dass ein gesundes, normal entwickeltes Kind noch lange kein Grund für ein glückliches, harmonisches (Familien-)Leben ist, und dass jeder Mensch mit seinen ganz eigenen Dämonen zu kämpfen hat. Die perfekte Familie ist eine Wunschvorstellung, die man vielleicht mal hatte, bevor man beschlossen hat, sich zu vermehren, und von der man, glückselig seinen Babybauch streichelnd, geträumt hat. Wie schnell dieses rosarote Bild dann aber von der Realität übermalt wird, können einem durchaus auch Eltern erzählen, deren Kinder nicht so einen spektakulären Start hatten wie unseres.
Natürlich bin ich in diesem Desensibilisierungsprozess schon ein gutes Stück weiter als der Mann, denn während er tagsüber ausschließlich mit Erwachsenen zu tun hat, Kinder kaum ein Gesprächsthema darstellen und er maximal am Wochenende den gleichen 2-3 Kindern von engen Freunden begegnet, bin ich praktisch den ganzen Tag von (meist) Müttern und ihren Kindern umgeben, beim Einkaufen, in den Therapien, im Kindergarten, am Spielplatz oder eben ganz bewusst beim Treffen mit Freundinnen. Wir spielen mit den Kindern, wir sprechen über die Kinder, wir lachen mit den Kindern, wir trösten sie, schleppen sie mit uns herum und verdrehen die Augen, wenn sie uns mal wieder gnadenlos auf die Nerven gehen. Das verbindet, und auch, wenn es natürlich manchmal immer noch herausfordernd ist, eine belastende Situation „wegzuatmen“, findet man immer wieder so viele Gemeinsamkeiten, dass einem zwischendurch klar wird, dass man doch nicht so anders ist, wie man dachte, und dass der Alltag mit Kindern für keine von uns ein reines Zuckerschlecken ist.
Man freut sich nämlich nicht demütig jeden Tag darüber, ein gesundes Kind geboren zu haben, um fortan glücklich und dankbar durch die Welt zu hüpfen. So funktioniert der Mensch nicht. Andere Eltern mit anderen Kindern haben andere Probleme, die für sie (zu Recht) einen genauso großen Stellenwert einnehmen, wie unsere Probleme für uns. Am Ende des Tages hat jeder sein Päckchen zu tragen, und nur, weil man sehnsuchtsvoll auf das Gras einer anderen Familie schielt und sich einbildet, es wäre grüner, muss das noch lange nicht der Realität entsprechen. Mittlerweile möchte ich mit keiner anderen Familie mehr tauschen, auch, wenn sich das anfangs mitunter vielleicht verlockend angehört hätte.
Sogar der Mann tut sich mittlerweile deutlich leichter mit anderen Kindern, und auch, wenn man ihn, weil er eben ein Mann ist, hin und wieder dazu zwingen muss: darüber reden hilft. Während ich meine Sorgen, Ängste und Gedanken immer schon mit meinen wunderbaren Freunden teilen konnte, und mir recht bald auch therapeutische Hilfe gesucht habe, spricht der Mann mit den Seinen lieber über neue Motocrossmodelle, und verschachtelt seine bösen Gedanken irgendwo tief hinten in einem Abstellraum seines Kopfes. Von dort muss ich sie ab und zu hervorkramen und abstauben, damit wir sie uns gemeinsam anschauen können. Darüber zu reden bedeutet nämlich einerseits, zu merken, dass man mit seinen Sorgen nicht alleine ist, und andererseits, sich gegenseitig auch an all das Gute zu erinnern, was passiert, an tolle Entwicklungsschritte, an den Spaß, den wir schon hatten, an das, was eigentlich „trotz allem“ möglich ist, wenn man nur will, und an alles, wofür wir dankbar sind. Jedes dieser Gespräche schweißt uns ein bisschen enger zusammen, und nimmt wieder ein bisschen Gewicht von der Brust, wenn diese Mal zu eng zu werden droht.
Irgendwann, davon bin ich überzeugt, wird dieses Gewicht ganz weg sein. Dann können wir ohne das kleinste bisschen Wehmut über das, was hätte sein können, mit anderen Familien unbeschwert Spaß haben, und uns einfach nur darüber freuen, wie großartig unser Bärli ist. Das muss nicht morgen soweit sein, oder nächstes Jahr. Aber es wird passieren. Und bis dahin ist es doch eigentlich ein schönes Gefühl, über das Leben mit unserer Tochter eines zu wissen: Ab jetzt kann es immer nur mehr besser werden.

Liebe Kathi
Ich hatte schon mal angefangen Dir zu schreiben und dann wars wieder nix. Sorry! Aber Dein blog hat mich sehr berührt wenn ich mich auch als „Kinderloser“ nicht in Deine Situation einfühlen kann.
Aber mein walk into sobriety hat mir gelehrt, daß sharing nicht nur caring sondern auch sehr heilsam ist. Und eine andere Paralelle ist daß man nur von gleich Betroffenen verstanden werden kann. As for the rest – they dont know what we are talking about . . .
Bitte verzeih mir meine Zweisprachigkeit (aber nach über 40 Jahren in SA ists halt oft leichter mich in Englisch auszudrücken). Ich wollte Dir zumindest meine Anerkennung zu Deiner Annahme der challenges Eurer so süßen Tochter mit Dir teilen. Das klingt jetzt sehr geschraubt aber ich hoffe Du verstehst was ich sagen möchte.
Einer Deiner statements faßt alles in einer Nußschale zusammen „Je mehr man sich mit der Situation konfrontiert desto einfacher wird es“.
In unserer Sprache der Addicts sprechen wir of von „denial is a river in Egypt“ – man zieht vor das Problem nicht anerkennen zu wollen/können . Auch denke es ist eine östereichische Abart, Dinge unter den Teppich zu kehren – der Selbstmord unseres Vaters 1984 ist ein Musterbeispiel von „There is an elefant in the room“.
Anyway soviel oder wenig von mir, ich hoffe es geht weiters bergauf bei Euch und die Rosie verbreitet ihren Sonnenschein, verbunden mit ihrer Persönlichkeit, und strahlt Freude in die Familie. Von der Susanne krieg ich ja gelegentlich Fotos und sie hat mir auch den link zu Deinem Blog geschickt.
Liebe Grüße und weiterhin alles Gute und innere Kraft
Michael/Johannesburg