In meiner Welt

In meiner Welt sterben Kinder. Und darum muss der Humor heute leider etwas auf der Strecke bleiben.

Natürlich weiß ich, dass ich trotz meiner verlustanfälligen Bubble immer noch in dem sehr privilegierten Teil der Erde lebe, wo der Tod eines Kindes etwas Außergewöhnliches, und nicht der traurige Alltag ist. Aber sind wir uns ehrlich, wer damit beginnt, sich aus seinem bequemen, mitteleuropäischen Nest heraus mit einem großen Teil der restlichen Welt zu vergleichen, der sollte eigentlich zwei Mal täglich auf die Knie fallen, um dem Schicksal, das einen in der Geburtslotterie hat gewinnen lassen, ein lautes und inbrünstiges „Danke“ entgegenzubrüllen.

Nichtsdestotrotz gibt es auch hier bei uns Einzelschicksale, die Familien erschüttern. Und als pflegendes Elternteil lernt man davon zwangsläufig mehr kennen als andere Menschen.   


Mir ist schon klar, dass immer und überall etwas passieren kann. Ich weiß, dass das Leben endlich, und körperliche Unversehrtheit kein Menschenrecht ist. Und selten, aber doch, kommt es auch in meinem „normalen“ (also prä-Rosie) Freundeskreis vor, dass Krisen auftauchen, die diesen Namen verdienen. Lebensverändernde, existenzielle und auf den ersten Blick nicht zu überwindende Berge, durch die wir einander dann durchtragen. Aber das bleibt eigentlich die Ausnahme.

Pro Clique findet man üblicherweise ein, vielleicht zwei absolut skurrile, dramatische und eigentlich nicht vorstellbare Schicksale. Maximal. Denn die richtig schlimmen Dinge, die passieren eigentlich immer den anderen.

Das Blöde ist nur: ich bewege mich in meinem Alltag oft in einer Welt, die aus „den Anderen“ besteht. Ich bin ja selbst eine davon. Und ich kenne mittlerweile so viele Menschen, deren Leben sich innerhalb von Sekunden um 180 Grad gedreht hat, dass es mir eigentlich völlig normal vorkommt. Das ist mein Standard. Meine Nulllinie. Meine Realität. Und das, was in anderen Bubbles, in anderen Freundeskreisen, in anderen Cliquen selten bis nie vorkommt, von dem man hört oder liest, aber es kaum einmal selbst erlebt, begegnet mir in regelmäßigen, manchmal überraschenden, oft auch lange befürchteten, aber darum nicht weniger schockierenden, Ereignissen immer wieder. Je länger ich mich im Umfeld anderer pflegender Eltern bewege, desto stärker wird es mir bewusst.


Unsere Kinder sind empfindlicher, anfälliger, haben mehr medizinische Eingriffe, und brauchen in der Regel länger, um sich zu erholen. Ernährungssonden und Beatmungshilfen bieten eine wunderbare Grundlage für Infektionen, eine Erkältung kann schnell mal mühsam bis gefährlich werden, wenn man nicht abhusten kann, und der ewig lauernde Gegner Epilepsie ist ebenfalls ein nicht zu unterschätzender Risikofaktor. Und dabei spreche ich noch gar nicht von jenen Krankheiten oder Beeinträchtigungen, die schon laut Diagnose lebensverkürzend sind, denn auch davon habe ich schon unerfreulich viele persönlich kennengelernt.

Zwar gehört Rosie zu denen, die trotz einer schweren Behinderung mit einem ausgezeichneten Immunsystem gesegnet sind. Sie ist, obwohl sicherlich sehr zart, doch eindeutig robuster als andere Kinder, und verdammt hart im Nehmen. Dennoch hat sie zum Beispiel in ihren fünf Jahren bestimmt schon deutlich mehr Narkosen hinter sich gebracht als ein durchschnittliches Kindergartenkind.

Damit will ich nicht sagen, dass ich mir tatsächlich echte Sorgen mache, sie zu verlieren. Aber selbst mein ziemlich fittes Kind ist statistisch gesehen einfach größeren Risiken ausgesetzt als andere. So gesehen sollte es mich also, wenn ich das so abgeklärt schreiben darf, mittlerweile nicht mehr so überraschen, eine Kerze in einem WhatsApp Status zu entdecken, und darunter die wohl schlimmsten Worte, die Eltern schreiben können. Tut es aber trotzdem. Es überrascht. Es schockiert. Es tut weh, weil ich das Kind und die Mutter kenne. Weil ich schon so manche Kinder und Eltern gekannt habe. Und es sollte verdammt nochmal nicht so oft passieren. Aber es passiert. In meiner Welt sterben Kinder.

Niklas, es war bereichernd, dich gekannt zu haben. Jetzt läufst du den Berg wieder selbst hinauf.

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