Montag, 25.10.2021
Es herbstelt gar sehr. War es in den letzten Wochen, trotz der grauen Wolken, die immer über diesem wettermäßig scheinbar verwunschenen Ort hängen, zumindest noch recht warm, so haben die Temperaturen übers Wochenende spürbar abgenommen. Ich merke das daran, dass mein übliches „Wanderoutfit“ aus Longsleeve und maximal einer ärmellosen Weste darüber, langsam nicht mehr ausreicht. Da ich, mit Rosie auf dem Rücken, relativ schnell ins Schwitzen komme, und es hasse, wenn mir beim Gehen zu warm wird, tendiere ich immer eher zu leichter Kleidung. Der Temperatursturz gestern hat mich dann doch etwas überrumpelt, und prompt habe ich in der Nacht angefangen zu husten. Besonders toll, wenn das Kind im Bett nebenan schläft, und man, mit Tränen in den Augen, um halb fünf Uhr früh versucht, einen Hustenanfall zu unterdrücken und das, was man nicht unterdrücken kann, zumindest durch Bettdecke und Polster schallzudämpfen. Ausgerüstet mit Hustenzuckerln und Gelo-Revoice (die Wunderwaffe, wenn´s im Hals kitzelt), hoffe ich auf mehr Glück heute Nacht.
Dienstag, 26.10.2021
Alpakas! Da heute Feiertag und daher therapiefrei ist, haben wir uns mal wieder zum örtlichen Bauernhof und seinem Weidegetier begeben. Die Abwechslung hier ist einfach nicht auszuhalten.
Gut, dass die kleinen Wuschelchen einfach so süß sind, dass ich sie mir auch immer wieder gerne anschaue. Faszinierend finde ich übrigens, dass die Tiere auf einer Weide stehen, aber trotzdem an den Zaun kommen, um sich mit Gras füttern zu lassen. Also entweder, sie sind einfach nicht die hellsten Kerzen auf der Torte, oder das Gras ist auf der anderen Seite wirklich grüner.
Der Mann hat uns heute wieder ein paar Stunden seiner Zeit geschenkt, und treibt sich mit dem Kind draußen herum. Man wird wirklich bescheiden, denn die letzten 1 ½ Stunden fühlen sich an wie ein Kurzurlaub im Spa, auch, wenn ich nur Yoga gemacht, in Ruhe geduscht, einen Kaffee getrunken und ein bisschen in meiner Post geblättert habe, die der Mann mir geliefert hat. Zum Glücklichsein brauche ich im Wesentlichen wirklich nur ein paar Momente, in denen einfach mal keiner etwas von mir will.
Demnächst ist es dann auch schon wieder vorbei mit der Ruhe, aber morgen bricht unsere letzte Woche an. Sieben Tage. Die schaffen wir locker. Ich bin jetzt schon ein bisschen stolz auf uns.
Mittwoch, 27.10.2021
Heute mussten wir Abschied feiern – unsere Alpaka-Gang löst sich auf, zwei von uns haben es hinter sich und reisen morgen früh ab. Um auf unsere gemeinsame Zeit anzustoßen, gab´s eine verbotene Flasche Prosecco und eine Runde Brettspiele spielen mit den Kids. Natürlich kam recht schnell der Vorschlag auf, dass sich aus Kinderspielen wie „Obstgarten“ oder „Tempo kleine Schnecke“ auch ganz vortreffliche Trinkspiele machen ließen, aber da kommt man zu viert mit einer Flasche Sprudel nicht wahnsinnig weit. Und dafür, im Klinikcafé anzurufen und „vier große Bier und vier Obstler für die Kinderabteilung“ zu bestellen, waren wir dann leider doch alle zu feig. Nicht, dass auf den letzten Metern noch was schief geht und uns irgendjemand beim Klassenvorstand (aka Chefarzt) verpfeift. Es ist schon abenteuerlich genug, das Leergut unbemerkt aus den Zimmern zu schmuggeln.
Ich merke, wie mein Nervenkostüm dünner, meine Kopfschmerzen stärker und mein Wunsch nach daheim größer wird. Natürlich rückt das Ende schon in greifbare Nähe, aber die Tage ziehen sich trotzdem, oder gerade deswegen, ziemlich dahin. Umgeben von Therapeuten, Ärzten, und Kindern mit verschiedensten Behinderungen sowie deren Eltern, lässt es sich nicht vermeiden, dass man mehr über das eigene Leben und die eigene Zukunft nachdenkt. Zuhause habe ich in den letzten Jahren gelernt, mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, und zu versuchen, mir nicht allzu oft über die nächsten Jahre den Kopf zu zerbrechen. Ich fokussiere meine Gedanken meistens nur auf die nächste Woche, das ist dann ein überschaubarer Hügel, und kein scheinbar unüberwindbarer Berg. Die älteren Kinder hier stellen allerdings automatisch einen Blick in eine mögliche Zukunft dar, und auch, wenn man kein Kind miteinander vergleichen kann, so zeichnet sich doch ab, dass unser Leben in bestimmten Bereichen ziemlich sicher anstrengender wird, als in „normalen“ Familien. Wie es eine andere Mutter hier treffend ausgedrückt hat: „Wir haben unsere Kinder einfach deutlich intensiver auf uns hängen, als es in dem Alter normal ist.“
Der einzig sinnvolle Weg, damit umzugehen, ist vermutlich, weiterhin in Schritten und nicht in Kilometern zu denken und so gut wie möglich auf sich Acht zu geben. Wir nützen unseren Kindern wesentlich mehr, wenn es uns gut geht. Und wenn das bedeutet, dass Rosie eine Stunde fernsieht, damit ich den Kopf frei bekomme, anstatt dass ich etwas pädagogisch Wertvolles mit ihr spiele, und mir selbiger dabei schon zu explodieren droht, dann ist das eben so.
Donnerstag, 28.10.2021
Am Programm standen Gespräche mit Therapeuten und Ärzten über Orthesen, Schienen, Umbauten am Rollstuhl und die Tatsache, dass man bei vielen Cerebralparesen zwar immer wieder Fortschritte macht, aber oft nach jedem Wachstumsschub wieder, wenn vielleicht nicht ganz von vorne, dann doch zumindest von deutlich weiter hinten anfangen muss. Die Rumpfstabilität, die man sich mühsam erlitten hat, kann also nach den nächsten 10 cm Körpergröße leider wieder flöten gehen. Heute ist mein Tag. Not.
Die meisten Eltern hier haben noch weitere Kinder, und ich frage mich oft, wie sie das machen. Andererseits glaube ich an solchen Tagen wie heute, wenn die Flut an Informationen mich zu erschlagen droht, dass es für Rosie, mich und die ganze Familie gut wäre, wenn ihre Behinderung nicht mehr so sehr im Fokus stünde. Ich stelle es mir wahnsinnig anstrengend vor, neben Rosie auch noch die Kraft, Energie und Hände für ein zweites Kind zu finden. Allerdings fühlt es sich im Moment auch unendlich erschöpfend an, dass mein Mama-Sein sich zu einem Großteil mit Therapiemöglichkeiten, medizinischen Überlegungen und einer diffusen Angst vor einer kräftezehrenden Zukunft beschäftigt. Rein mathematisch betrachtet (meines logikliebenden Vaters Herz geht gerade ein bisserl auf), ist die Rechnung ja ganz einfach. Jetzt fühlt es sich so an, als würde Rosies Behinderung meine Mutterrolle zu etwa 80% definieren. Mit einem Geschwisterkind wären 50% also schonmal an jemand anderen vergeben, und wenn dann Rosies 50% wieder mit 80% behinderungsspezifischen Gedanken, Sorgen und Aktionen ausgefüllt wären, dann liegen wir insgesamt nur mehr bei 40%. Also 40% Behinderung, 60% „normales“ Muttersein. Das hört sich wieder nicht so schlecht an. Die Überlegung ist also, ob der Mehraufwand durch ein zweites Kind sich lohnt, wenn die mentale Belastung sich dafür besser verteilt. Druck ist ja auch eine Frage der Fläche. Definitiv ein oder zwei Gedanken wert.
Um auszurechnen, wie viel 80% von 50 sind, habe ich übrigens einen Taschenrechner bemüht. Meines logikliebenden Vaters Herz ist gerade wieder in sich zusammengefallen.
Freitag, 29.10.2021
Die Abschlussgespräche haben begonnen. Zum Ende der Reha darf mir jeder Therapeut nochmal seinen Eindruck der letzten vier Wochen und hilfreiche Tipps mitgeben, damit wir auch daheim brav weiterarbeiten können. Natürlich erst, nachdem wir uns ausgiebig vom „Bootcamp“ erholt haben.
Dass unsere Abreise jetzt tatsächlich in greifbare Nähe rückt, ändert auch ein bisschen unseren Status hier. Jetzt sind wir die alten Hasen, Rosie ist das Kind, das jeder mit Namen kennt, und ich bin die Mutter, die weiß, wo die Alpakas stehen, wie man zum Supermarkt oder zur Drogerie kommt, wann das Schwimmbad offen hat und wen man fragen muss, um eine zusätzliche Schaumstoffauflage für die steinharte Krankenhausmatratze zu bekommen, bevor die Rückenschmerzen zu stark werden. Es ist ein bisschen wie im Ferienlager. Am Anfang tappst man unsicher hinein, fragt sich, an welchen Tisch man sich setzen darf und versucht schüchtern, mit ein paar Leuten ins Gespräch zu kommen. Am Schluss hat man 10 neue Telefonnummern im Handy, reißt blöde Witze im Speisesaal, trinkt heimlich ein Bier zusammen und umarmt sich zum Abschied. Das ist mit 16 nicht anders als mit 36. (Und ich weiß, ich bin keine 36 mehr, aber so klingt es halt besser.)
Morgen werden wir schon mal die ersten Sachen einpacken, die der Mann dann am Sonntag mitnehmen kann. Auf Kofferraumtetris vor der Abreise habe ich nämlich keine Lust, vor allem, weil der Rolli zuerst ins Auto muss, und ich Rosie nicht schon im Autositz festschnallen will, während ich versuche, unsere 2 Tonnen Gepäck sicher zu verstauen. Also werden wir für die letzten Tage wirklich nur das Notwendigste hierlassen, damit wir am Mittwoch nach der Übergabe der Entlassungspapiere sofort ins Auto springen und los düsen können. Ob wir uns draußen in der echten Welt überhaupt noch zurechtfinden? Ob ich es mühsam finden werde, wieder täglich kochen zu müssen? Und ob ich mich nach vier Wochen, die ich (Karl Lagerfeld rotiert gerade in seinem Grab) ausschließlich in Jogginghosen verbracht habe, wieder an Hosen ohne Gummizug gewöhnen werde? Man wird sehen…
Samstag, 30.10.2021
Was soll man über einen Tag schreiben, an dem man, außer, dass man spazieren gegangen ist, eigentlich nur spazieren gegangen ist? Gefühlte 150 zu Fuß zurückgelegte Kilometer später fange ich wirklich an, mein Auto sehr heftig zu vermissen. Natürlich kann man auch viele Wege mit 0,14 PS (den Wert habe ich gegoogelt) anstatt mit 190 zurücklegen, aber wenn man dabei noch einen Rolli schiebt oder 14 kg (Kind plus Trage) mit sich herumschleppt, wird es sehr schnell sehr schweißtreibend. Auf der Plusseite meine ich allerdings, ein bisschen abgespeckt zu haben, was ja auch nicht so schlecht ist, bevor der böse Dezember mit Keksen und Glühwein um die Ecke kommt.
Beim Abendessen hatten das Kind und ich heute eine kleine Auseinandersetzung, weil ich nicht wollte, dass sie in meinen Teller greift, und sich daran die Finger verbrennt. Leider verträgt sie das Wort „Nein“ derzeit nur bedingt, weshalb ihre Empörung im ganzen Stockwerk zu hören war. Der neueste Schmäh ist es nämlich, dass sie, wenn sie beleidigt ist, erst schmollend die Unterlippe nach vorne schiebt, dann feuchte Augen bekommt, danach den Kopf auf die Tischplatte legt und sich unter ihren Armen verkriecht, und wenn man dann noch immer nicht ihren Wünschen entsprechend reagiert hat, die Sirene anwirft. Leider beißt sie damit bei mir auf Granit, da ich herzloses Miststück mich von ihrer, wie ich zugeben muss, durchaus beeindruckenden Performance, nicht zum Nachgeben bewegen lasse. Sobald sie ihren Willen bekommt (beim Papa klappt das manchmal), oder man irgendeinen Schmäh reißt, über den sie leider mitten in der Vorstellung doch lachen muss, merkt man nämlich, dass das eher keine echte Verzweiflung, sondern größtenteils Theater war. Ich erwäge, mich schon mal bezüglich der Aufnahmebedingungen fürs Reinhardtseminar zu erkundigen. Talent gehört gefördert.
Heute Nacht ist Zeitumstellung, und so fein es früher war, zum Ende der Sommerzeit wieder eine Stunde länger schlafen zu können, so mühsam ist dieser Tag mit Kind, denn Rosie ist es egal, dass wir uns nochmal umdrehen und weiterschlafen könnten, sollte unsere innere Uhr uns zur gewohnten Zeit wecken. Wenn sie wach ist, ist sie wach. Ich drücke mir selbst sehr fest die Daumen, dass sie ihren biologischen Wecker überhört, denn sollte sie mich morgen um 4:30 aus dem Bett werfen, könnte es sein, dass ich diejenige bin, die ihren Kopf unter den Armen vergräbt. Und meine Tränen sind dann fix echt!
Sonntag, 31.10.2021
Happy Halloween! Normalerweise wäre ich jetzt vermutlich schon verkleidet, hätte einen Truthahn im Rohr, einen Süßkartoffelkuchen im Kühlschrank und hungrige Gäste vor der Tür, und mein Herz blutet ein wenig dabei, dieses Jahr keine Feier zu veranstalten. Und weil heute auch keine kostümierten Kinder bei mir läuten und „Süßes oder Saures“ rufen, habe ich gestern noch an alle Türen in der Kinderabteilung kleine Halloween-Candy-Sackerln mit Schokolade und Gummitotenköpfen gehängt. Was soll ich sagen, ich habe einfach einen Feiertagsfetisch, ob es sich jetzt um Weihnachten, Ostern oder eben Halloween handelt. Wenn ich wüsste, worum es bei Jom Kippur oder dem Zuckerfest wirklich geht, würde ich vermutlich auch dazu eine Party veranstalten und Geschenke verteilen, einfach, weil es mir so viel Spaß macht, meine Mitmenschen zu füttern und meinen Liebsten eine Freude zu bereiten.
Der Mann ist zu Besuch und treibt sich aktuell noch mit dem Kind draußen herum, das Wetter muss man schließlich ausnutzen, da ja angeblich der Wintereinbruch droht. Heute habe ich etwas von einem Meter Neuschnee gelesen, aber gleich weiter gescrollt – daran denke ich erst, wenn es wirklich Zeit ist, die Moonboots auszupacken. Und heim kommen werden wir schon noch ohne Schneeketten.
Noch drei Mal schlafen, dann dürfen wir nach Hause fahren! Ich bin schon ganz aufgeregt, wenn ich daran denke. Den ganzen Tag nur damit zu verbringen, irgendwie die Zeit totzuschlagen, macht mich einfach schon leicht irre. Üblicherweise führe ich zwei bis drei ToDo-Listen gleichzeitig, aber hier habe ich nur eine, auf der immer das gleiche steht: „Alpakas besuchen“, „Esel streicheln“, „Bilder malen“ und „für einen langen Mittagsschlaf beten“. Ich fühle mich einfach schon so richtig unproduktiv, was etwas paradox ist, da ich trotzdem den ganzen Tag beschäftigt bin und am Abend komplett erledigt ins Bett falle. Aber wenn man zwölf Mal hintereinander die Geschichten von Bobo Siebenschläfer vorliest, dann ist man danach zwar auch erschöpft, hat aber trotzdem nicht wirklich das Gefühl, etwas aus seinem Tag gemacht zu haben. Natürlich habe ich viele Stunden lang meine Tochter unterhalten, was ja durchaus auch eine erfüllende Beschäftigung sein kann. Aber nach vier Wochen Kinderanimation hat sich die Freude darüber, Rosie zum Lachen zu bringen, ein wenig abgenutzt, ich sag´s wie´s ist. Zeit wird’s, dass sich dieser Job wieder auf mehrere Leute verteilt, dann kann ich die Quality Time mit ihr auch wieder genießen. In diesem Sinne: Endspurt!
Duuuuuuurchhaaaaaalteeeeeen!!!!!!
Liebe Kathi, habe bisher alle Blogs versäumt aber nun alles nachgeholt. Es ist großartig wie du die Themen beschreibst.