Diabetes im Glas

Punschkrapfenlikör. So weit ist es also mit mir gekommen. Aber wenn mich der nicht in Weihnachtsstimmung bringt, dann wird das heuer wohl nichts mehr.

Der Lockdown Nummer… wie viel auch immer, scheint zwar demnächst zu Ende zu sein, aber man kommt nicht umhin, sich zu fragen, wann denn der nächste vor der Türe steht, was die Freude darüber etwas trübt.

Das Kind verlangt beim Vorlesen ausschließlich nach Bobo, dem Siebenschläfer, und ist nicht zu Kompromissen bereit, obwohl ich ihr mittlerweile sogar lieber aus Rosamunde Pilchers gesammelten Werken vortragen würde, als weiterhin die ewig gleichen Geschichten zu ertragen, die ich schon vorwärts und rückwärts aufsagen kann.

Zu allem Überfluss hat es mal wieder geschneit, was bedeutet, dass mir mein Telefon stündlich neue Bilder anderer Leute Kinder anzeigt, die glücklich und mit roten Wangen rodeln, Schneemänner bauen und Schneeballschlachten machen, während ich mit Rosie im Rolli fluchend über die verschneiten Wege holpere, weiße Batzen an den Reifen hängen bleiben, die dann später schmelzend im Auto und im Haus dreckige Lacken hinterlassen, und ich mir sehnsüchtig wünsche, dass auch meine Tochter einfach so, ohne immer auf mich angewiesen zu sein, lachend durch den Schnee stapfen, spielen und den Winter genießen könnte.

Es sind solche Tage, an denen mir die Unterschiede wieder besonders bewusst werden, und anstatt wie sonst im Dezember „Rocking around the Chistmas Tree“ zu trällern, denke ich mir grantig und schwermütig: „Jaja, the most wonderful time of the year. Not.“

Dass selbst mir, als bekennendem Weihnachtsjunkie, aufgrund der Umstände gerade die Energie fürs Jinglen der Bells ausgeht, ist vermutlich für Außenstehende nachvollziehbar, für mich selbst aber mehr als besorgniserregend. Denn eigentlich liebe ich den Advent. Ich liebe es, das Haus zu dekorieren, ich liebe Weihnachtsmusik (ja, sogar „Last Christmas“), ich liebe Glühwein und Lichterketten, und ich liebe es, Geschenke für meine Lieben zu kaufen und Kekse zu backen. Und nicht mal der Grinch, den ich geheiratet habe, schafft es, mich in meiner Vorweihnachtsfreude zu erschüttern.

Doch heute ist das Radio still und die Kekse bleiben in den Dosen, während ich an meinem Küchentisch sitze und mich in Selbstmitleid suhle, weil mein Kind keine Schneeengel im Garten macht. Weil sie dem Christkind keinen Brief zeichnen, und ich wie immer nur raten kann, was sie sich wünscht, und weil es aufgrund ihrer motorischen Einschränkungen eine echte Herausforderung ist, etwas zu finden, womit sie wirklich spielen kann. Weil wir nicht schnell mal rodeln gehen können, da jedes derartige Unternehmen in unserem Fall eine logistische Herausforderung und einen körperlichen Kraftakt meinerseits bedeuten, der mit den Jahren eher größer als kleiner wird. Weil mit dem Schnee ganz neue Hindernisse in unserem Rolli-Leben auf uns zukommen, an die ich irgendwie noch gar nicht gedacht hatte. Und weil ich mir manchmal einfach ganz normale Probleme wünsche.

Da fällt mein Blick auf die Flasche mit dem Punschkrapfenlikör. Eine Absonderlichkeit, die ich aus einer Laune heraus vor Wochen gekauft, aber noch nie probiert habe. Weihnachten in der Flasche quasi. Und Pink ist er auch noch. Was habe ich schon zu verlieren, denke ich, und schenke mir ein kleines Gläschen ein. Kurz darauf muss ich lachen, denn bei dem Namen hätte ich zwar kein exquisites Geschmackserlebnis erwartet, mit so einer picksüßen Grauslichkeit habe ich allerdings nicht gerechnet. Und während ich mich kopfschüttelnd frage, was mich dazu bewogen hat, dieses Zeug zu kaufen, wo ich mich doch eigentlich weder um Punschkrapfen, noch um Likör reiße, fällt mein Blick auf Rosies Adventskalender, der an der Terrassentüre hängt.

Im Vergleich zu den letzten Jahren versteht sie heuer schon, dass da was für sie drin versteckt ist. Auch am Adventskranz ist sie interessierter als bisher, wenn die Kerzen brennen, muss er immer ganz nah bei ihr stehen. Beim Kekse backen reicht es ihr nicht mehr, an einem Stück Teig herumzukneten. Im Gegenteil, sie ist tödlich beleidigt, wenn ihre (gut mit Kinderspucke gewürzten) Sterne, Tannenbäume und Kipferln nicht ebenso am Backblech landen, wie die von allen anderen. Sie freut sich und lacht, wenn ich ihr erzähle, dass jetzt bald das Christkind kommt. Und wenn ich im Rolli mit ihr zu einem Weihnachtslied tanze und sie vor, zurück und um sich selbst wirble, dann quietscht sie vor Vergnügen. All das war im letzten Advent noch anders, und ich muss lächeln.

Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr Dinge fallen mir ein, die Rosie im letzten Jahr gelernt hat. Entwicklungsschritte, die sie gemacht hat. Zusammenhänge, die sie durchschaut hat. Kleinigkeiten, eigentlich, aber in unserem Fall doch Meilensteine. Und dennoch vergesse ich immer wieder, was sie mittlerweile alles kann, und konzentriere mich zu sehr darauf, was sie noch nicht kann, obwohl ich doch weiß, wie hart sie und auch wir dafür gearbeitet haben.

Ich atme durch, stehe auf, lege eine Weihnachts-CD ein, beiße beherzt in einen Keks und schenke mir noch ein Stamperl von dem rosaroten Zaubertrank ein, der mich trotz des gewöhnungsbedürftigen Geschmacks und des diabetesverursachenden Zuckergehalts irgendwie doch aus meiner miesen Laune gerissen hat.

Fuck it, denke ich, morgen gehen wir rodeln. Und dann feiern wir gemeinsam den dritten Advent, der Grinch, das Bärli, und ich. Und vielleicht sogar der Punschkrapfenlikör.

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7 Gedanken zu “Diabetes im Glas”

  1. Wir sprinten, unentwegt.
    Uns wird beigebracht stehen zu bleiben um zu rasten. Uns wird beigebracht durch zu schnaufen. Uns wird beigebracht auch mal den Moment zu genießen.
    Und sonst sprinten wir.
    Dabei haben wir meistens gar kein Ziel vor Augen. Bestenfalls Etappensiege. Meistens sind es aber Wegmarkierungen nach denen wir Ausschau halten um uns zu vergewissern, dass wir bei der letzten Gabelung nicht falsch abgebogen sind.
    Uns wird beigebracht diese niemals aus den Augen zu verlieren.

    Hat man doch einmal den Mut sich umzudrehen und die Ungewissheit für einen Moment hinter sich zu lassen, sieht man die Reifenspuren vom Rolli im Schnee. Dabei vergisst man nur allzu gern, dass es die eigenen Fußspuren dazwischen sind, die es dem Kind überhaupt ermöglichen vorwärts zu kommen.

    Ihr könnt stolz auf euch sein.

  2. Ich habe heute rosierockt entdeckt und mein Herz geht auf.. Ich freue mich sehr von euch zu lesen.. Ich denke immer wieder an euch..starke Mama starke Tochter.. Alles Liebe und Gute weiterhin..

    1. Das freut mich sehr 🙂 Wir denken auch oft an das ganze WSP Team und unsere Zeit dort, ihr habt uns ja wirklich lange begleitet. Ganz liebe Grüße und weiterhin viel Erfolg und Freude bei eurer so wichtigen Arbeit!

  3. Danke für die lieben Worte! Wir entwickeln uns mit jeder Familie weiter.. und lernen mit euch mit und von euch! Ich muss sehr beim Lesendes Blogs lachen.. Allen Mama’s und Papa’s geht es so.. Liebe Grüße!

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