Arschkalt kalt ist es, aber zumindest scheint die Sonne. Selbstverständlich kann das, wie in letzter Zeit (lockdownbedingt) so oft, nur eines bedeuten: Outdoorprogramm! Das Kind wird warm eingepackt, dem zwar kälteerprobten, weil aus Kärntner Berghöhen stammenden Mann, wird dennoch eine Merinowoll-Zwischenschicht unter der Jacke empfohlen, und auch ich packe die lange Unterhose aus, denn bei Minusgraden reichen die „ich bin schon seit einer Woche nicht mehr zum Rasieren gekommen“-Stoppel nicht mehr aus, um die Wadeln zu wärmen.
Heute steht eine neue, spannende Herausforderung für uns auf der Agenda. Vor einer Woche habe ich, motiviert durch die Eislauferlebnisberichte meiner Freundinnen, für Rosie diese kleine Kufen erstanden, die man Kleinkindern über die Schuhe schnallen kann. Will Haben sei Dank ist es ja möglich, solche Anschaffungen auch mal zu Testzwecken und ohne großes finanzielles Risiko zu tätigen.
Rosie ist natürlich vom freien Stehen oder Gehen (oder auch nur Sitzen) aufgrund der fehlenden Rumpfstabilität und ihrer spasmusbedingten Koordinationsschwierigkeiten noch weit entfernt. Mit Hilfe, und wenn man sie bei den Händen hält, kann sie aber durchaus ein paar Schritte machen, Stehen und ihr eigenes Gewicht so halbwegs tragen. Das sieht zwar alles etwas wackelig aus, aber da es ihr großen Spaß macht, und sie (in diesem Fall praktischerweise) auch so ein Fliegengewicht ist, können wir eigentlich verhältnismäßig viel mit ihr herummarschieren. Natürlich nicht im Vergleich zu anderen Dreijährigen, aber für ein Kind mit einer schweren CP, das in Kürze seinen ersten Rollstuhl verpasst bekommen wird, stapft sie durchaus fleißig durch die Welt.
Der Mann ist während der Fahrt noch etwas skeptisch ob unserer sportlichen Ambitionen, und wie oft, wenn wir in Situationen geraten, die für uns anders laufen als für andere, eher still und nachdenklich. Für mich gehört es natürlich eher zum Alltag, in Situationen zu kommen, in denen mir der Unterschied zu anderen Kindern deutlicher auffällt als gewöhnlich, daher macht es mir nicht mehr so viel aus. Etwas Neues wie Eislaufen auszuprobieren, ist allerdings auch für mich keine Alltagssituation, aber weil ich dem zweifelnden Mann das Stirnrunzeln nehmen möchte, plappere ich im Auto begeistert darüber, wie sehr es Rosie gefallen wird, und dass ich mir einfach nicht vorstellen kann, wieso das jetzt nicht klappen sollte.
Gepusht von meinem eigenen Pep-Talk, schwinge ich mich also in meine Eislaufschuhe, und drehe zum Aufwärmen erst mal alleine ein paar Runden, um mich wieder an das Gefühl zu gewöhnen. Eislaufen ist nämlich, wie ich letztes Jahr feststellen musste, keineswegs wie Radfahren, man verlernt es durchaus, und nur, weil man seine Winternachmittage in Wien Favoriten als Kind mit Vorliebe am Eisring Süd verbracht hat, heißt das noch lange nicht, dass es einen nach über zwei Jahrzehnten Pause nicht beim ersten vorsichtigen Schritt auf die Eisfläche mit viel Schwung und wenig Grazie auf die „Pfeifn“ hauen kann. Quelle: schmerzhafter Selbstversuch.
Nachdem ich das Gefühl habe, wieder halbwegs stabil auf dem Eis zu stehen, wirft der Mann mir das frisch bekufte Kind über die Bande, und los geht’s. Der erste, rutschige Bodenkontakt überrascht uns zwar beide ein wenig, aber nachdem wir uns auf einen Schwerpunkt eingependelt haben, traue ich mich, zaghaft und vorsichtig, anzutauchen. Wir wobbeln und wackeln, und die Füße so halbwegs in Fahrtrichtung zu halten ist für Rosie eine nicht zu unterschätzende Herausforderung, aber: wir fahren! Und sie quietscht dabei vor Vergnügen! Während wir (mit kleinen Unterbrechungen, um meinen armen Rücken zu entlasten), unsere Runden drehen, kann ich nicht aufhören, zu grinsen. Verdammt nochmal, es funktioniert! Von so einer blöden Cerebralparese lassen wir uns nicht aufhalten.
Als ich mir Rosie nach einer kurzen Verschnaufpause nochmal schnappen will, um eine Abschlussrunde zu fahren, fragt der Mann, der zwischenzeitlich gemeint hat, man könnte der Einfachheit halber zwecks Kindesbespaßung ja auch auf die Rutsche gehen, mich, ob ich das gerade eigentlich für Rosie mache, oder für mich. Meine ehrliche Antwort darauf lautet: „Für uns beide!“.
Freilich gibt es Dinge, die unsere Tochter nicht kann. Und es gibt genug Sachen, für die sie vermutlich immer auf Hilfe angewiesen sein wird. Sie kann nicht einfach loslaufen und mit anderen Kindern spielen. Sie kann ihre Weihnachtsgeschenke (noch) nicht selbst ausprobieren. Ich werde ihr in absehbarer Zeit weder Radfahren beibringen, noch sie zum Kinderturnen oder in einen Skikurs schicken, und wie das letzte Rodeldesaster abgelaufen ist, kann man ein paar Blogposts weiter vorne nachlesen. Aber es gibt auch Dinge, an denen sie Spaß haben kann, und die wir gemeinsam erleben können. Dinge, die für mich immer zum Kind- bzw. Mutter-Sein dazugehört haben. Natürlich hängt auch viel vom Gesundheitszustand und dem Schweregrad der Behinderung eines Kindes ab, das ist klar. Einiges ist aber auch eine Frage der Einstellung und des „Sich-Trauens“. Deswegen gehen wir auf den Spielplatz, auch, wenn ich sie auf die Rutsche heben muss, und wir vermutlich noch sehr lange immer darauf hoffen müssen, dass die Babyschaukel frei ist. Deswegen trage ich sie stundenlang in der Rückentrage spazieren, damit wir gemeinsam die Natur erkunden können. Deswegen bauen wir Dreiräder und andere Kinderfahrzeuge mit Lehnen, Rahmen und Gurten so um, dass sie ihr genügend Halt bieten, um allein darin zu sitzen. Und deswegen ignoriere ich gerade die Rückenschmerzen, und laufe mit meinem Kind auf dem Eis. Damit wir, wenn unsere Freunde fragen, ob wir Lust auf Eislaufen haben, nicht daneben sitzen und zusehen müssen, sondern mitmachen können. Ich werde so schnell nicht den Luxus haben, mit den anderen Mamas auf einer Bank zu sitzen, zu tratschen, und den Kids beim Spielen zuzusehen. Mein Kind braucht meine Hilfe, um dabei zu sein. Aber so lange sie Lust darauf hat, Neues zu erleben, werde ich mein Bestes geben, ihr und auch mir diese Erfahrungen zu ermöglichen.
Vor einigen Jahren habe ich ein Video gesehen, in dem die Mutter eines behinderten Buben ihm mithilfe eines speziellen Gestells dabei geholfen hat, auf einem Skateboard zu fahren. Damals habe ich nicht verstanden, wieso sie so fröhlich aussieht, während sie hinter ihm herläuft und ihn durch den Skatepark schiebt. Ich habe nicht verstanden, was es heißt, einem Kind etwas, das es vermutlich nie alleine können wird, mit Tricks, Hilfsmitteln und vollem Körpereinsatz, zu ermöglichen, damit es eben auch diese eine, bestimmte Erfahrung machen kann. Ich hatte arroganterweise angenommen, dass es für die Mutter eher ein trauriges Erlebnis gewesen sein muss, ein fauler Kompromiss, und dass sie den Schmerz darüber, dass ihr Sohn nicht alleine auf einem Skateboard stehen kann, tapfer weglächelt.
Heute weiß ich, dass diese Mutter, für die ihr Sohn ja so viel mehr ist als nur seine Behinderung, genau das gleiche Lächeln im Gesicht hatte wie ich, als ich mit Rosie meine Runden über das Eis gedreht habe. Denn solche Erfolgserlebnisse, solche „Scheiß drauf, wir können das!“-Erfahrungen, solche schönen Familientage und fröhlichen Mutter-Kind-Momente, die sind kein Kompromiss, sondern echtes Glück.