Die haben doch alle einen Knall

Im Gespräch mit anderen Müttern habe ich manchmal den Eindruck, als hätten sie mir gegenüber ein schlechtes Gewissen, wenn sie es wagen, sich über ihre anstrengenden Kinder zu beschweren. Gerne werden dann Formulierungen benutzt wie: „Ich weiß, man kann die Situation nicht vergleichen, aber…“, bevor sie mir erschöpft von den neuesten Verhaltensoriginalitäten ihrer Sprösslinge berichten. Aus diesem Grund möchte ich hier etwas klarstellen: selbstverständlich kann man das vergleichen!

Klar läuft bei uns manches anders, und der Alltag mit einem behinderten Kind bringt seine ganz eigenen Herausforderungen mit sich. Aber abgesehen davon bin ich davon überzeugt, dass beinahe alle Eltern sich das Leben mit Kind leichter, oder zumindest anders, vorgestellt haben, und ihren Nachwuchs gelegentlich mal durch Sonne und Mond schießen möchten.

Neben ihrer Behinderung ist Rosie nämlich in erster Linie Kleinkind, und als solches schlicht und ergreifend geistesgestört, genauso, wie alle anderen mir bekannten Kleinkinder. Und viele der Gründe, aus denen mein Puls im Laufe so eines Mama-Tages hochschnellt, gehören nicht nur für mich, sondern, in der einen oder anderen Form, für alle Mütter (und natürlich auch manche Väter) zum Alltag. Der einzige Unterschied dabei ist, dass die Tobsuchtsanfälle meines Kindes etwas anders aussehen als die von anderen, da Rosie sich beispielsweise, cerebralparesenbedingt, nicht weinend auf den Boden werfen, ihre Spielsachen durch die Gegend schleudern oder mit Türen knallen kann. Aber sie kann brüllen, raunzen, kreischen und sich verbiegen, und zwar zum Beispiel aus folgenden Gründen:

Rosie will nicht schlafen gehen.

Rosie will nicht mit der Mama schlafen gehen, sondern mag lieber zum Papa.

Rosie kommt drauf, dass sie doch wieder zur Mama will.

Mama will ihren Kaffee nicht mit Rosie teilen.

Mama hat es nicht so gern, wenn mit dem Spaghettilöffel Muster auf die Tischplatte gemalt werden.

Mama kostet den Grießkoch, um zu prüfen, ob er zu heiß ist.

Mama schmeißt ein Schokoladenpapier weg.

Rosie hat keine Lust zum Anziehen.

Rosie möchte JETZT ein Buch anschauen.

Rosie möchte das Buch nicht mehr anschauen.

Rosie möchte aber auch nicht, dass Mama das Buch zuklappt.

Bobo, der Kuscheltiersiebenschläfer, ist umgefallen.

Bobo, der Zeichentricksiebenschläfer, kann nicht einschlafen.

Bobo, der Kuscheltiersiebenschläfer, muss aus der Hand gelegt werden, um ein Leiberl anzuziehen.

Mama dreht den Fernseher ab, weil Bobo, der Zeichentricksiebenschläfer, schon seit 45 Minuten läuft, und es irgendwann gut sein muss.

Mama tuscht sich die Wimpern, ohne so zu tun, als würde sie Rosie auch die Wimpern tuschen.

Mama setzt sich auf den Küchenboden und vergräbt den Kopf in den Händen, weil der Alltagswahnsinn irgendwie erschöpfend ist…

All das und vieles mehr kann für Rosie derzeit ein Grund sein, sich bitterböse und lautstark über die Ungerechtigkeit der Welt zu beschweren, und wenn es gerade keine vermeintlich großen Katastrophen sind, die ihr und mir den Tag versauen, dann gibt es noch jede Menge anderer Kleinigkeiten, über die man sich mit einem hochfrequenten, seiernden „Maaaaaaamaaaaaa! Maaaahaaaaamaaaa!“ aufregen kann. In diesen Momenten wünsche ich mir oft sehr, dass Rosie möglichst bald mal sprachliche Fortschritte macht, damit sie mich wenigstens abwechslungsreicher anraunzt.

Aber der Punkt ist: solche Listen kennen alle Eltern. Behindert, nicht behindert, Mädchen, Buben, Einzelkinder, Geschwisterkinder, und was es sonst noch alles gibt: in dem Alter haben die doch einfach alle einen Knall, oder?

Es ist, als würde man mit einer völlig ungefilterten Miniversion von sich selbst zusammenleben, die weder Diplomatie, noch Kompromisse oder Impulskontrolle kennt, für die Worte wie „später“ oder „gleich“ keinerlei nachvollziehbare Bedeutung besitzen, und für die die sofortige Befriedigung der eigenen Bedürfnisse immer ganz oben auf der Prioritätenliste steht. Kleinkinder sind laut, unverschämt und egoistisch, und die Aufgabe, aus diesen wildgewordenen Gartenzwergen auf Ecstacy halbwegs verträgliche, sozial kompetente und vernünftige Mitglieder der Gesellschaft heranzuerziehen, ist anstrengend.

Gott sei Dank, und davon gehe ich auch bei Rosie aus, wächst sich dieser Kleinkindausnahmezustand irgendwann raus, und der Wahnsinn wird kleiner. Oder zumindest anders. Und für einen anderen Wahnsinn hat man dann vielleicht wieder neue Strategien, Ideen und Energien.

Sollten Eltern älterer Kinder das hier lesen und ob meiner Naivität milde lächeln: bitte lasst eure Warnungen stecken und mir meine Illusionen. So wie ich sie den schwangeren Frauen lasse, die davon ausgehen, dass sie besser schlafen werden, wenn das Kind erst mal da ist und nicht mehr auf Blase und Rippen drückt. Wir alle brauchen diese Illusionen, wenn wir nicht wollen, dass die Menschheit ausstirbt. Und irgendwann wird das alles sicher leichter, oder? Oder??

Bis dahin bezahle ich den Winzer meines Vertrauens eben weiterhin per Dauerauftrag.

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5 Gedanken zu “Die haben doch alle einen Knall”

  1. Just to let you know…. Alma sagt derzeit einzig und ausschließlich „Mama“… in den verschiedensten Betonungen… 20 mal hintereinander… mindestens… den ganzen Tag eigentlich… ohne ersichtlichen Grund… auch, wenn sie gar nichts will, schon alles hat was sie wollen könnte, potenzielle Aua verneint wurden… man glaubt etwas tun zu müssen, weiß aber nicht was… scheint eine dieser „Phasen“ zu sein! 😉

  2. Liebe Kathi!
    Danke für deine klugen Worte! Die hätten mir sehr geholfen, als meine noch klein waren. Ja, haben alle einen Knall!
    Und: Ja, es wird besser und leichter! Definitiv!
    Wahrscheinlich wird es auch mal schlechter zwischendurch (Teenageralter?), aber dazu sag ich erst was, wenn ich es in ein paar Jahren überstanden habe 😉
    Unser Winzer ist sehr happy mit uns!

    1. Liebe Sabrina, danke für die Hoffnung, dass es besser wird 🙂 Und ja, ich fürchte, für die Pubertät müssen wir dann alle mal eine Zeit lang von Wein auf Wodka umsteigen… Aber auch das wird vorbei gehen 😉

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