Vom Rasen und Rotsehen

Rosie rockt nicht nur, nein, sie rast auch. Naja, sie fährt zumindest. Aber trotzdem: endlich!

Am 06. Dezember 2022 haben wir zum ersten Mal den E-Fix (also den Elektroantrieb) für Rosies Rolli eingereicht, da es ihr, aufgrund der Spasmen in den Armen, unmöglich ist, die Räder des Aktivrollis selbst mit einem auch nur annähernd zufriedenstellenden Ergebnis zu bewegen. Nach mehreren Ablehnungen, Einsprüchen, Überprüfungen durch die Krankenkasse (mit dem Ergebnis, dass Rosie mit einem E-Fix nicht umgehen könne, eine Einschätzung übrigens, der ihre Therapeuten vehement widersprechen), und schließlich einem öffentlichen Rant in einer großen, österreichischen Tageszeitung, deren Macht sich in diesem Land nicht mal Ämter und Behörden widersetzen können, wurde Rosies fahrbarer Untersatz am 16. Oktober 2023, also über 10 Monate später, endlich mit dem verdammten Ding ausgestattet. Und was soll ich sagen: das Warten hat sich gelohnt.  

Das Kind, das einen E-Fix angeblich nicht bedienen kann, und für das, nach Meinung der Krankenkasse, die Möglichkeit auf selbständige Fortbewegung einen verzichtbaren Luxus darstellt, hat gestoppte 2 Minuten gebraucht, um ihren Rolli mithilfe des neuen Joysticks gezielt und sicher durch die Lobby des Sanitätshauses zu steuern. Nach einer Stunde konnte sie den Radweg entlangfahren und verlässlich auf Kommandos wie „Stopp“ und „Komm bitte zu mir zurück“ reagieren. Also, so verlässlich, wie es einem 5jährigen Kind eben möglich ist, das gerade zum ersten Mal den süßen Duft der Freiheit schnuppert. 

An Tag zwei waren wir einkaufen, und sie konnte mir durch das ganze Geschäft nachfahren, ohne irgendetwas oder -jemanden niederzumähen (oder auch nur an einem Regal anzustreifen). Langsam zwar, aber dafür sehr konzentriert und sicher.

An Tag drei konnte sie den Rolli auf Stecken ohne große Hindernisse bereits mit einer Geschwindigkeit von 3,5 km/h steuern (was schneller ist, als es klingt!), und wir waren gemeinsam eine große Runde spazieren. Auf der zwei Kilometer langen Strecke musste ich nur ein einziges Mal eingreifen und kurz selbst lenken.

Der Gesichtsausdruck, den sie hat, wenn sie mit ihrem Flitzer die Straßen unsicher macht, lässt mein Herz fast zerspringen. Sie ist zu Recht unfassbar stolz auf sich, und genießt jeden Meter, den sie selbst fahren, jede Entscheidung, die sie selbst treffen kann. Und ich genieße es, ihr dabei zuzusehen.

Ich freue mich so sehr. Und gleichzeitig wird diese Freude überschattet von einer unfassbaren Wut. Einer Wut auf ein System, in dem ich um dieses bisschen Freiheit, das für mein Kind die Welt bedeutet, beinahe ein Jahr lang kämpfen musste. In dem ich gestritten, diskutiert, argumentiert, und mich schließlich, wenn man so will, prostituiert habe. In dem ich unsere Geschichte mit dem Boulevard teilen musste, um öffentlichen Druck aufzubauen. Und in dem ich letztlich eine Schlacht gewonnen habe, von der es einfach nur eine Frechheit ist, sie überhaupt führen zu müssen. Zumal der Krieg ja weitergeht.

Das nächste Projekt auf unserer Liste ist ein Pflegebett, da Rosie für den Wickeltisch langsam einfach zu groß wird. Zudem nimmt mein Rücken mir das tägliche „ins Bett legen“ und „aus dem Bett heben“ meiner Tochter, trotz ihrer Zartheit, langsam übel, und ein höhenverstellbares Bett mit absenkbarem Rahmen zum Zwecke der Körperpflege, Umlagerung und Durchführung therapeutischer Übungen ist daher die naheliegende und notwendige Lösung. Möchte man meinen. Denn auch hier wurde mir seitens des Sanitätshauses erklärt, dass Pflegebetten für Kinder von den Krankenkassen in der Regel nicht bewilligt werden. Wie gut, dass sie schon um günstige achttausend Euro zu haben sind. Kann man sich ja leicht selbst kaufen, oder? Und wenn nicht, dann züchtet man sich halt einen geschmeidigen Bandscheibenvorfall. Die passende OP dafür, die würde die Kasse dann nämlich wieder übernehmen. Um es also auf gut Wienerisch zusammenzufassen: Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich speiben möcht.

Während ich also begeistert meiner Tochter dabei zusehe, wie sie die Grenzen ihrer bisher eher kleinen Welt täglich weiter nach außen verschiebt, und mich (etwas weniger begeistert) schleunigst daran gewöhnen muss, dass sie mir jetzt plötzlich verloren gehen kann, wenn ich kurz nicht hinsehe, und wir neuerdings Diskussionen wie „nein, erst gehen wir einkaufen, dann fahren wir ein Eis essen“ führen, während derer sie sich lachend umdreht, Richtung Eissalon davonfährt und mich mit einer Mischung aus Stolz und Fassungslosigkeit vor dem Supermarkt stehen lässt, wappne ich mich innerlich bereits für den nächsten Kampf gegen Goliath.

Ich sammle Argumente, formuliere im Kopf bereits nicht nur den Antrag, sondern auch den Einspruch auf die uns vermutlich bevorstehende Ablehnung, und überlege mir, welche Ressourcen ich noch mobilisieren kann, um meinem Kind zu seinem Recht zu verhelfen. Und nicht nur meinem Kind, denn jeder Sieg gegen die strikten und oft nicht nachvollziehbaren Krankenkassenregeln schafft einen Präzedenzfall. Ein Beispiel dafür, dass man etwas erreichen kann, wenn man hartnäckig bleibt. Einen Hoffnungsschimmer für andere Eltern, denn was schon einmal geklappt hat, kann auch wieder klappen.

Ich will meine Leistung keinesfalls größer machen, als sie ist. Ich kann die Welt nicht verändern. Aber vielleicht kann ich zumindest an einem System rütteln, in dem pflegende Eltern durch zu viele Reifen springen müssen, um ihren Kindern Teilhabe, Selbstbestimmung und ein Mindestmaß an Komfort zu ermöglichen. Vielleicht lassen sich ein paar der Reifen zerschlagen. Vielleicht kann ich zumindest laut genug sein, damit jeder hört, dass es so nicht weiter gehen darf. Vielleicht schaffe ich, wenn schon keinen Umbruch, dann zumindest Sichtbarkeit.

Wofür habe ich eine Stimme, ein zumindest durchschnittlich schlaues Köpfchen, ein recht ungefiltertes Mundwerk und ein gerüttelt Maß an Streitlust mit in die Wiege gelegt bekommen?

Wenn das alles nichts hilft, dann gibt es in Österreich noch 13 andere Tageszeitungen. Und ich scheue mich nicht, sie zu benutzen. Auf in den Kampf.

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6 Gedanken zu “Vom Rasen und Rotsehen”

    1. Im Moment muss ich erst mal die üblichen Schritte abarbeiten. Wenn ich dann zur Demo vor dem Versicherungsgebäude aufrufe, gebe ich Bescheid 😉
      Danke auf jeden Fall für die Unterstützung!

  1. Wie unfassbar ärgerlich und beschämend dass in einem so reichen Land wie Österreich Eltern streiten und kämpfen müssen um für ihre Kinder notwendige medizinische und therapeutische Mittel zu bekommen. Ich hab solche Geschichten jetzt schon so oft gehört. Warum verdammt nochmal bekommt sie das nicht einfach bewilligt wenn der Therapeut es für sinnvoll hält?

    1. Tja, warum… weil pflegende Angehörige recht wenig Lobby haben. Und selbst kaum Zeit, sich zu organisieren, um ihre Rechte durchzusetzen oder am System zu rütteln. Einfach ausgedrückt: mit uns kann man´s machen, weil wir wenig Möglichkeiten haben, uns zu wehren. Neben Alltag, Job und Pflege hat kaum jemand noch die Energie, zu streiten. Deswegen versuche ich, umso lauter zu sein, so lange ich die Kraft habe 🙂

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