Was ich in diesem schier endlos scheinenden Lockdown am meisten vermisse, ist es, ab und zu raus zu gehen, um ein Essen, das ich nicht selbst kochen musste, unter Einsatz beider Hände zu mir zu nehmen, dabei nicht bis zu den Ellbogen eingeschweindlt zu sein, und meinen Teller für mich ganz allein zu haben. Essen mit Kind ist nämlich schon generell nur mäßig lustig, und mit unserem Bärli mitunter besonders herausfordernd.
Essen und Trinken waren für Rosie und uns schon schwierige Themen, seit sie auf die Welt gekommen ist. Da ihr der natürliche Saugreflex fehlte, hatte sie anfangs natürlich eine Magensonde, durch die sie ernährt wurde. Allen Widrigkeiten zum Trotz, begann sie aber bereits nach einigen Tagen, zaghaft an einer Flasche zu saugen. Das schien offenbar weit weg von selbstverständlich zu sein, worüber uns der Neurologe mit den Worten: „Ein Kind mit so einem MRT sollte nicht mal schlucken können.“ informierte. Da weiß man erst mal auch nicht, ob man sich freuen soll, oder nicht.
Wir versuchten also fortan, ihr die Flasche zu geben, mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Nach ein paar Wochen konnte die Magensonde entfernt werden, und das erklärte Hauptziel meines Tages war es ab diesem Zeitpunkt, genug Milch ins Kind zu bekommen, damit sie zumindest ein kleines bisschen zunimmt. Zudem wurde mir im Krankenhaus eingetrichtert, dass „Kinder mit Hirnschaden besonders hochkalorisch geführt werden“ müssen, denn jede Energie, die man oben rein füllt, kommt erst unten wieder raus, nachdem sie zuvor kräftig die Hirnentwicklung angekurbelt hat. Ich war also beim Fläschchen geben absolut tiefenentspannt (*sarcasm*), und rückblickend ist mir völlig klar, wieso spätestens ab diesem Zeitpunkt in der kompletten Fütterungsthematik massiv „der Hund drin war“, wie man so schön sagt.
Mit dem Wissen, das ich heute habe, hätte ich uns allen viel weniger Stress gemacht. Ich hätte Rosie viel länger über die Sonde ernährt, hätte es akzeptiert, wenn sie mal nicht trinken will, und hätte sie ihren eigenen Rhythmus finden lassen, anstatt mich an die „alle 4 Stunden muss gefüttert werden“ Doktrin der Neonatologie zu halten, wie man es uns empfohlen hatte. Aber, wie das halt so ist, beim ersten Kind weiß man es eben nicht besser, und man vertraut seinem Bauchgefühl noch nicht ausreichend, um einfach mal etwas zu versuchen. Zudem konnte und wollte ich mich auch einfach noch nicht mit unserer Situation abfinden und akzeptieren, dass Rosie nicht so war wie andere Kinder, und wollte daher die Sonde, als äußeres, deutlich sichtbares Zeichen für ihr „Anders-Sein“, so schnell wie möglich loswerden.
So begannen unsere täglichen Kämpfe, die Rosie, den Mann und mich oft genug an den Rand der Verzweiflung (und darüber hinaus) brachten. Mehr als einmal haben wir alle drei geheult und schon Angstzustände bekommen, wenn wir die Flasche nur gesehen haben. Zwischen der genauen Buchführung über Milliliter, Gramm und Speibhäufigkeit (das Kindlein tendierte nämlich auch dazu, das, was man gerade mühevoll hineingefüllt hatte, mit Schwung wieder von sich zu geben), blieb nur wenig Zeit für ein halbwegs entspanntes Familienleben, und ein Tag war erst gut, wenn sie eine gewisse Mindestmenge, den magischen, von den Ärzten als Untergrenze festgelegten Wert von 300ml in 24 Stunden, zu sich genommen hatte. Der Satz: „Sie wird uns also auch heute nicht verhungern!“, wenn dieser Wert erreicht war, wurde zu unserem Mantra. Mittlerweile haben wir übrigens ein anderes, wesentlich entspannteres Familienmotto, aber das ist eine andere Geschichte 😊
Schon früh habe ich in all dem Chaos gelernt, niemals mit einem „normalen“ Kinderarzt über die Mengen zu sprechen, die Rosie damals zu sich genommen hat. Die messen einfach mit anderen Maßstäben, und der Satz unseres (grundsätzlich sehr guten) Kinderarztes: „Naja, wenn sie 5-6 nasse Windeln pro Tag hat, dann passt das schon!“, auf meine Frage, ab wann ich mir echte gesundheitliche Sorgen machen müsse, bringt mich noch heute zum Lachen. Fürs Protokoll: ein Säugling, der 5-6 nasse Windeln am Tag produziert, hat keine Fütterungsstörung. Wer 5-6 nasse Windeln pro Tag wechselt, dessen Kind hat kein Problem. Also zumindest keines mit dem Trinkverhalten. Mein Kind hat zu Spitzenzeiten 19 Stunden lang keinen Schluck getrunken. DAS sind die Dimensionen, in denen ich denke, wenn ich von Trinkproblemen spreche.
Es war also schnell klar, dass wir dringend Hilfe vom Profi brauchen. Nach intensiver Recherche und mehreren Anläufen mit Logopäden und anderen Therapeuten, bekamen wir letztlich immer die gleiche Empfehlung: die Abteilung der Säuglingspsychosomatik des Wilhelminenspitals in Wien.
Auf diesen „Pavillons IV und V“ kann man mit viel Ruhe, Zeit und wirklich toller ärztlicher und pflegerischer Betreuung, stationär und ambulant an diversen Themen arbeiten. Von Schlafproblemen über Bindungsschwierigkeiten und, wie in meinem Fall, Fütterungsstörungen, habe ich in meiner Zeit dort alles gesehen, was die Baby- und Kleinkindpalette zu bieten hat. Auch Eltern sogenannter Schreibabys wird meist früher oder später diese Abteilung empfohlen. Die einzige Hürde, die sich dabei auftut, ist es nur leider, einen Platz zu bekommen. Pro Tag bietet die Abteilung meines Wissens nach Platz für insgesamt 3 ambulante und 5 stationäre Patienten. Da so ein Problem aber meist nicht innerhalb von 2 Wochen gelöst ist, kann man sich die Länge der Warteliste in etwa vorstellen.
Wenn man allerdings erst mal drin ist, dann ist man drin, uns muss nicht um seinen Platz zittern, selbst, wenn die Therapie länger dauert, als erwartet. Rosie und ich waren insgesamt ca. 1,5 Jahre in der ambulanten Betreuung, anfangs 3 Mal pro Woche, später dann einmal wöchentlich bis 14-tägig, und in all der Zeit hatte ich nie das Gefühl, dass irgendjemand ungeduldig wird, weil unser Platz für einen anderen Patienten gebraucht wird.
Wie genau die Therapie dort abläuft, und was wir sonst noch bezüglich der Ernährung unternommen haben, würde den Rahmen eines einzelnen Blogposts sprengen, in drei Jahren Fütterungsstörung kommt da schon einiges zusammen. Mittlerweile haben wir aber schon gewaltige Fortschritte gemacht, und immer, wenn ich mir mal wieder furchtbar leid tue, weil das Essen mit Rosie trotzdem immer noch eher viel Aufwand ist, und neidvoll auf die Eltern schiele, die ihren Kindern einfach ein Kipferl in die Hand drücken können, muss ich mich selbst aktiv daran erinnern, wo wir her kommen, und wie weit wir schon gekommen sind.
Derzeit schlage ich mich, wie eingangs erwähnt, hauptsächlich mit halbwegs altersentsprechenden Herausforderungen herum. Das Kind will grundsätzlich von meinem Teller essen, bekommt Tobsuchtsanfälle, wenn ich sie nicht von meinem Kaffee kosten lasse, und am Ende einer Mahlzeit könnten wir schon mal beide eine Dusche vertragen. Weil ich ja auch einen halbwegs gesellschaftstauglichen Spross auf die Welt loslassen möchte, versuche ich, trotz aller Umstände, irgendeine Form der Erziehung walten zu lassen. Ich erkläre ihr, dass auf ihrem Teller das gleiche ist wie auf meinem, dass Essen, was in ihrem Fall sogar stimmt, mit der Gabel viel leichter geht als mit den Fingern, und dass mein Kaffee eh grauslich schmeckt. Und wenn sie irgendwann besonders lästig ist, dann bekommt sie auch schon mal ein klares „NEIN!“ zu hören.
Dabei halbwegs konsequent zu bleiben und dennoch zu verhindern, dass sie doch noch an Unterernährung zugrunde geht, ist eine Gratwanderung der besonderen Art, denn bei einem Kind, dass sich bei „friss oder stirb“ schon mal fast für die letzte Option entschieden hätte, wird man dann halt vorsichtig mit solchen Ansagen. Mein Ziel ist es, Rosie zu vermitteln, dass Essen etwas Schönes, Genussvolles und Spannendes ist, ohne uns beide fünf Mal täglich umziehen zu müssen. Ein Kind mit einer CP An- und Auszuziehen, hat nämlich auch so seine Tücken, aber dazu dann ein anderes Mal.