Tiefgrundelnd Hochstapeln

Heute war ein komischer Tag. Vielleicht lag es am Wetter, denn die hochsommerlichen Temperaturen werden gerade von einer windig-nassen Kaltfront unterbrochen. Vielleicht lag es auch daran, dass ich gestern zu spät ins Bett gekommen bin, und unausgeschlafen bin ich immer ein bisschen merkwürdig drauf. Vielleicht war es aber auch einfach mal wieder Zeit für seltsame Launen. Jedenfalls gingen mir heute einige Gedanken rund um die Berechtigung meines Gemütszustandes durch den Kopf, und die möchte ich einfach mal teilen.

Hinter dem fancy Namen „Imposter Syndrome“, dem man immer häufiger in den diversen Medien begegnet, versteckt sich eigentlich das Gefühl, das man manchmal hat, wenn einem der eigene Erfolg irgendwie unverdient erscheint. Wenn man eine Sache nach außen hin rockt, selbst aber den Eindruck hat, als schaffe man das alles in Wahrheit nur per Zufall, Glück oder aufgrund günstiger äußerer Umstände. Als wäre der Weg, den man zurückgelegt hat, nicht der Grund dafür, dass man dort angekommen ist, wo man steht. Als wäre man ein Hochstapler.

In meinem Fall benutze ich ihn aber, um zu beschreiben, welche Gefühle das Leben mit einem schwerbehinderten Kind zuweilen in mir auslöst. Es geht also nicht darum, dass ich irgendwas nicht verdient hätte, denn es ist ja nicht so, als hätte ich mir das Privileg, eine pflegende Mutter zu sein, erarbeitet. Aber manchmal glaube ich, dass mir meine daraus resultierende Erschöpfung nicht zusteht, vor allem, nach Wochenenden wie dem letzten.

Rational weiß ich, dass Rosie eine ausgeprägte Behinderung hat. Sie ist immer und bei allem auf Hilfe angewiesen, kann weder allein sitzen noch essen, und davon, dass sie mal neben mir stehen oder gehen wird, sind wir meilenweit entfernt. Zudem spricht sie nicht, und noch ist nicht klar, welche Wege der Kommunikation sie noch für sich entdecken wird, idealerweise, bevor es Zeit für ihre Einschulung ist. Unser Leben ist also, ganz objektiv gesehen, durchaus herausfordernd, und zwar Tag für Tag.

Und dann haben wir ein schönes Familienwochenende. Wir machen Radausflüge, gehen Eis essen, treffen Freunde beim Heurigen und genießen die Sonne, den Garten und den Pool. Wir verbringen herrliche 48 Stunden, in denen der (ansonsten eher sechs Tage die Woche hackelnde) Mann ausnahmsweise mal nicht arbeiten muss, und alles fühlt sich leichter an als an anderen Tagen. Es geht uns gut.

Abends im Bett lese ich dann auf Instagram, Facebook oder in diversen Foren Geschichten von Müttern, deren Kinder drastisch lebensverkürzenden Krankheiten haben. Oder von Eltern, deren Pflegetätigkeit nicht darin besteht, ihre Vierjährigen anzuziehen, zu wickeln und herumzutragen, sondern deren tägliche Routine Dinge wie Absaugen, Sondenernährung, manuelle Darmentleerung, Medikamentengabe und permanente Überwachung der Vitalfunktionen umfasst. Die immer eine große Tasche an Equipment dabeihaben müssen, einfach nur, um ihr Kind am Leben zu erhalten, sofern es überhaupt möglich ist, gemeinsam das Haus zu verlassen. Die das alles, weil der Partner sich nicht mehr zuständig fühlt (oder es nicht mehr sein kann), auch noch allein schupfen müssen. Die zudem nebenher noch ausreichend Geld verdienen müssen, um Miete, Essen und Therapien finanziell zu stemmen, weil sie niemanden haben, der das ausgleicht, was sie eigentlich nicht verdienen können, während sie sich um ihr Kind kümmern sollten. Die lernen müssen, eine liebevolle Beziehung zu ihrem Kind aufzubauen, obwohl sie noch nie ein Lächeln bekommen haben, oder eine Umarmung. Die in der Notaufnahme im Krankenhaus die Schwestern schon mit Namen begrüßen, weil sie monatlich einmal dort auf der Matte stehen. Die so vieles leisten, was ich nicht leisten muss.

Und dann fühle ich mich ganz klein, und demutsvoll, und dankbar. Dankbar dafür, dass Rosie, bis auf ihre paar Lücken im Hirn, gesund ist. Dass sie fröhlich ist, und lacht. Dass sie uns erkennt, dass sie weiß, dass Mama und Papa da sind. Dass sie zeigen kann, wenn sie sich freut. Dass sie zeigen kann, wenn ihr etwas nicht passt. Und dass sie, abgesehen von ihren motorischen Einschränkungen, ein wirklich tolles, unkompliziertes, lustiges und schlaues Bärli ist.

Und trotzdem muss ich mich am Montagmorgen zwingen, aufzustehen, und sie aus dem Bett zu heben. Ich weiß, dass es auch in dieser Woche Momente geben wird, wo ich nicht mehr kann. Situationen, die auch nach über vier Jahren noch weh tun. Augenblicke, in denen ich mir furchtbar leidtue, weil mein Rücken das viele Tragen, Stützen und Lagern nicht so mitmacht, wie ich das gern hätte. Psychische Belastungen, die mich sogar an Tagen, die eigentlich gut laufen, so plötzlich und überraschend treffen, dass ich abends um acht Uhr ins Bett falle und nicht mehr aufstehen kann. Und wenn ich dann die Beiträge anderer Eltern lese, wächst das schlechte Gewissen darüber, dass ich es nicht besser hinbekomme, mich auf die positiven Aspekte unseres Lebens zu konzentrieren, und ich hinterfrage, ob ich mich überhaupt eine pflegende Mutter nennen darf. Ich pflege ja nicht, ich trage nur.

Unser Leben läuft im Grunde wirklich gut. Jedes Jahr meistern wir besser als das davor, in jedem Sommer können wir mehr unternehmen als im letzten, jeder Urlaub bringt mehr Erholung als der vorhergehende, und jede Auszeit nutzen wir intensiver. Und trotzdem fällt es mir manchmal immer noch so schwer, morgens in die Gänge zu kommen, und zu funktionieren. Obwohl mich kein Monitor und keine Sonde erwarten, sondern ein lachendes, strahlendes Mädchen.

In diesen Augenblicken hat mich das Imposter Syndrome fest im Griff, ich fühle mich wie eine Hochstaplerin zwischen all den Eltern, die Unvorstellbares leisten, und frage mich, mit welchem Recht ich mich eigentlich beklage, weil es mir immer noch deutlich besser geht als vielen anderen. Weil ich trotz Rosies Behinderung bestimmt weniger Sorgen habe, als mache Familien, deren Kinder ganz normal entwickelt sind. Weil ich eigentlich keinen Grund habe, zu jammern.

Leider gibt es keinen schlauen Kalenderspruch, den man im Landhausstil einrahmen und an die Wand hängen kann, um sich selbst daran zu erinnern, dass die eigenen Gefühle durchaus ihre Berechtigung haben, und dass es keinen Vergleich mit anderen Menschen braucht, um sich manchmal überfordert fühlen zu dürfen. Und so bleibt das schlechte Gewissen deswegen, denn Fakt ist, ich kann diese Gedanken nicht abstellen. Ich weiß, dass viele Kinder schwerer beeinträchtigt sind, als Rosie, und ich weiß, dass viele Eltern größere Lasten tragen als der Mann und ich. Und trotzdem spüre ich das Gewicht unseres Päckchens oft zentnerschwer auf meinen Schultern.

Eine sehr gute Freundin von mir gab vor vielen Jahren, ehrlicherweise Jahrzehnten (oh Gott, sind wir alt!), mal diesen schlauen Satz von sich, an den ich seitdem in vielen Lebenssituationen denken muss:

„Weißt du, wenn ich ein Loch im Kopf habe, und dann begegnet mir jemand, der hat ein größeres Loch im Kopf, dann tut mir das zwar leid, aber ich hab‘ halt immer noch ein Loch im Kopf!“

Charmanter und treffender kann man eigentlich nicht beschreiben, wie wichtig es ist, seinen eigenen Gefühlen Raum zu geben, und vielleicht ist es das, woran ich mich festhalten muss, wenn ich mir mal wieder meinen eigenen Schmerz nicht zugestehen will.

Rosie hat ein verdammt reales Loch im Kopf. Drei sogar, laut dem letzten MRT, und nur, weil ein anderer ein größeres Loch im Kopf hat, oder auch fünf davon, macht das unser Leben nicht weniger anstrengend. Oftmals bringt allein der Gedanke an bestimmte Situationen, Aufgaben oder ganze Tage einen Grad der Erschöpfung mit sich, den ich mir in Prae-Rosie-Zeiten nicht mal vorstellen konnte, und so etwas wie Unbeschwertheit zu empfinden, ist paradoxerweise zu einer mentalen Aufgabe geworden, etwas, woran man aktiv arbeiten muss. Mal braucht es dazu etwas mehr Kraft, mal etwas weniger, aber von allein geht es selten.

Komischerweise hatte ich noch nie ein Problem damit, anderen Eltern ihre Überforderung, ihre Erschöpfung, ihre Müdigkeit oder auch die gelegentliche Desillusionierung bezüglich ihres Mama- bzw. Papadaseins zuzugestehen, unabhängig von der jeweiligen Lebenssituation oder dem Entwicklungsstand der Kinder. Der Vorstadtmama mit gehaltsabhängigem Karenzmodell und besserverdienendem Gatten kann mit ihren Geschwisterkindern im pädagogisch wertvollen Altersabstand von 2,5 Jahren genauso die Kraft ausgehen, wie dem jungen Paar in der Zweizimmerwohnung, die sie seit neuestem mit ihrem Baby teilen. Eltern, deren Kinder drei Mal pro Woche zum Sport wollen, haben oft genau so das Gefühl, nur noch von A nach B zu hetzen, wie Eltern, die ihr behindertes Kind von Therapie zu Therapie fahren müssen. Und dass die allermeisten Menschen unterschätzen, wie grauslich Schlafentzug wirklich sein kann, bis das Kindlein dann auf der Welt ist und der ganzen Familie die Nachtruhe versaut, das ist ja auch kein Geheimnis. Aus diesen und vielen anderen Gründen verstehe ich es eigentlich immer, wenn jemand mir erzählt, dass ihn oder sie mitunter ein parentales Motivationstief ereilt.

Nur bei mir selbst glaube ich manchmal, dass mir meine Gefühle nicht zustehen, dass mir das alles leichter fallen sollte, und dass es doch eigentlich keinen Grund gibt, kraftlos auf der Couch zu liegen und einfach mal nicht mehr laufen zu wollen, und zwar sowohl physisch, als auch mental.

Daran, mir selbst zu erlauben, was ich bei anderen völlig normal finde, muss ich eindeutig noch arbeiten, denn wenn mich die letzten Jahre eines gelehrt haben, dann, dass es wichtig ist, seinen Gefühlen die Beachtung zu schenken, die sie verdienen. Die sind wie kleine Kinder, wenn man sie ignoriert, werden sie immer lästiger, bis einem schließlich eine Sicherung durchbrennt. Durchbeißen ist in akuten Krisen eine hilfreiche Strategie, aber langfristig kommt man wohl leider nicht daran vorbei, sich mit seinen Emotionen vernünftig auseinanderzusetzen, wenn man die Entwicklung von Falten und Magengeschwüren nicht unnötig beschleunigen möchte.

Und ganz egal, wo man glaubt, im weltweiten Ranking der schwierigen Lebenssituationen zu stehen: ein Loch im Kopf ist nun mal ein Loch im Kopf.

Klar könnte es schlechter laufen. Aber besser halt auch. Und das manchmal scheiße zu finden, ist ok.

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