Krisenkumulationskopfchaos

Und dann gibt es so Wochen, die einfach heftiger reinkicken als andere. Da kommen zusätzlich zum ganz normalen Alltagswahnsinn noch Termine dazu, die, jeder für sich genommen, eh nicht so schlimm sind. Aber wenn sich´s „läppert“, wie man in Wien sagt, dann merke ich, wie die Energie aus mir raus pfeift, als hätte jemand ein Loch in einen Luftballon gestochen.

Rosie trägt seit neuestem eine Art Stützbody aus Neopren, der ihr dabei helfen soll, ihren Oberkörper aufzurichten, um ihre Wirbelsäule, die üblicherweise (aufgrund ihrer fehlenden Rumpfstabilität) einiges mitmacht, bestmöglich zu unterstützen. Und wie immer, wenn wir mit einem neuen Hilfsmittel nach Hause kommen, und ist es auch noch so klein, fällt mir wieder auf, wie viel Equipment eigentlich notwendig ist, um unserem Kind den Alltag zu erleichtern. Das führt natürlich zwangsläufig dazu, dass ich mir Gedanken darüber mache, was in Zukunft noch alles notwendig sein wird, und ob das Gepäck, das wir im Auto verstauen müssen, wenn wir mit Rosie wegfahren wollen, eigentlich jemals weniger, oder nicht vielleicht doch eher mehr werden wird. Überlegungen, die ich normalerweise versuche, irgendwo im Archiv meines Kopfes unter „let´s cross this bridge when we get there“ abzulegen, damit sie mir im Alltag nicht den Atem rauben.

Auch der Nachsorgetermin mit dem schon ab und zu erwähnten Dr. Botox, der unermüdlich versucht, Rosie ihren Umgang mit den Spasmen durch intramuskuläre Botulinumtoxininjektionen zu erleichtern, war nur mäßig lustig, denn abgesehen davon, dass er wohl immer noch kein Fan von mir ist (siehe „Botox, Baby“), gehören Diskussionen über „realistische Therapieziele“ nicht zu meinen bevorzugten Nachmittagsunterhaltungen. Und wenn dann auch noch eine neue Therapiemöglichkeit angesprochen wird, deren Kosten sich vermutlich um die 10.000 Euro bewegen, die von der Krankenkasse selbstverständlich nicht übernommen werden, dann hilft mir auch der Hinweis auf die Möglichkeit von Spendenaufrufen und Anfragen bei diversen Charity-Organisationen nichts. Meine „Ich hasse das System-Ader“ auf Schläfenhöhe beginnt dann gar heftig zu pochen, und ich sehe einen Berg an Organisationsarbeit vor mir auftauchen, den ich mal wieder werde abarbeiten müssen, um meinem Kind zu einem weiteren, winzigen Schritt in Richtung Selbständigkeit zu verhelfen. Das darf ich zum Kotzen finden, auch, wenn man mir erklärt, dass die medizinische Versorgung in Österreich im internationalen Vergleich immer noch recht leiwand und auch leistbar ist. Ja eh. So lange aber Versicherungen in neugebauten Glaspalästen sitzen, und sich ganze Kabarettprogramme damit füllen lassen, wer schon wieder Steuern hinterzogen oder sich Fördergelder erschlichen hat, finde ich es trotzdem einigermaßen oarsch, durch welche Reifen man als pflegendes Elternteil springen muss, um seinem Kind Therapie und Teilhabe zu ermöglichen. Das Recht dazu habe ich mir verdammt nochmal erlitten. Die Kohle ist nämlich da. Sie ist nur richtig beschissen verteilt.

Krönender Abschluss dieser herrlichen Woche war ein Gespräch mit einer Diplompflegekraft bezüglich der Neubewertung von Rosies Pflegestufe. Sich 1,5 Stunden mit jemandem darüber zu unterhalten, was der eigene Nachwuchs alles nicht kann, und wie viel Zeitaufwand es eigentlich bedeutet, sich um ein schwerbehindertes Kind zu kümmern, das bei allem, wirklich allem, zu 100% auf fremde Hilfe angewiesen ist, macht die Laune auch nicht unbedingt besser. Dinge, die mir im Alltag gar nicht mehr so auffallen, weil sie ganz einfach zu meinem Leben gehören, werden mir dadurch wieder bewusst vor Augen geführt, und der Unterschied zu einem „normalen“ Tagesablauf mit Kind, den ich meist gar nicht mehr aktiv wahrnehme, weil ich es ja nicht anders kenne, kann einfach nicht mehr so konsequent wegignoriert werden wie gewöhnlich. Wenn man seinen Tag mal vom Aufstehen bis zum Schlafengehen durchgeht, und das Gegenüber dabei jeden Handgriff, den wir für Rosie übernehmen, notiert, bemerkt man erst, wie viele Handgriffe da eigentlich zusammenkommen.

Was ich allerdings auf der Plusseite erwähnen muss, sind die vielen durchgestrichenen Kästchen auf der Seite „Auffälligkeiten im Sozialverhalten“. Rosie tritt nicht, kratzt nicht, beißt nicht, schlägt ihren Kopf nicht gegen die Wand, spuckt nicht (absichtlich), und brüllt unterwegs nicht wahllos Leute an, außer, sie spielt gerade, dass sie ein Löwe ist. Die Existenz dieser Kästchen macht immerhin deutlich, was ich im Grunde eh weiß, nämlich, dass es noch sehr viel Luft nach oben gibt, was die täglichen Belastungen betrifft.

Trotzdem hoffen wir, dass der Termin sich gelohnt hat, denn dass Rosie immer noch auf Pflegestufe 3 mit einer 70%igen Behinderung herumdümpelt, kann, wenn man sich das Ausmaß ihrer Einschränkungen ansieht, ja eigentlich auch nicht wahr sein. Mittlerweile dürfte aber auch dem verbohrtesten Sachbearbeiter und dem verständnislosesten Arzt klar sein, dass sie dem Alter, in dem „jedes Kind pflegebedürftig ist“ (einer meiner Lieblingssätze der letzten Jahre), entwachsen ist.

Jetzt mache ich also das, was nach anstrengenden Wochen am besten funktioniert: ich kühle ein Fläschchen (oder zwei) fürs Wochenende ein, schreibe mir meine gesammelten Emotionen von der Seele, erinnere mich daran, dass unser Bärli das beste Bärli der ganzen Welt ist, und atme ein paar Mal ganz tief durch. Ja, sie braucht mehr Hilfe als andere Kinder und nein, das wird sich so schnell vermutlich auch nicht ändern. Aber bald beginnt eine neue Woche, ein neuer Monat, ein neues Jahr. Und wir schaffen das. Einen Handgriff nach dem anderen.   

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